Aus aktuellem Anlass trockene Juristerei mit praktischen Beispielen erklärt:
Keine Doppelverfolgung
Der Begriff “Doppelverfolgung” = “ne bis in idem” (“Niemals in derselben Sache zwei Verfahren”) beschreibt das Verbot, dass zweimal oder mehrmals jemand wegen einer (möglichen oder tatsächlichen) Straftat vom Staat verfolgt wird. Egal von welchem Staat. Nach der Rechtsprechung des EGMR geht es darum, ob das jeweils vom Straftatbestand geschützte Rechtsgut schon einmal Thema war, es geht um “Rechtsgutidentität”.
Beispiel:
Nazikriegsverbrecher die 1950 in Polen angeklagt waren, dürfen nicht nochmals 1980 in Deutschland verfolgt werden. Oder in Polen. Egal, ob sie freigesprochen oder verurteilt wurden. Rechtsgutidentität.
Beispiel:
Wer sich nationalsozialistisch wiederbetätigt, dem drohen entweder gerichtlich bis zu 20 Jahre Haft (§ 3g VerbotsG) oder verwaltungsbehördlich nur bis zu 2180 Euro Geldstrafe (Art. III EGVG). Der Staat muss sich entscheiden, welches der beiden Verfahren er durchführt. Beides geht nicht. Rechtsgutidentität.
Beispiel:
Mein Mandant beleidigt öffentlich einen Polizisten, was natürlich den öffentlichen Anstand verletzt (§ 1 Oö. PolStG). Ok, aber dann darf er nicht zusätzlich wegen öffentlicher Beleidigung (§ 116 StGB) angeklagt werden (siehe den Fall hier). Rechtsgutidentität.
Konkurrenz
Der rechtswissenschaftliche Begriff “Konkurrenz” meint dagegen ganz unterschiedliche Dinge, unter anderem, ob eine verbotene Handlung mehrere Straftatbestände erfüllt, ob sie “konkurrieren”, also “nebeneinander herlaufen”. Es geht dabei auch um Rechtsgutidentität und die Frage, ob das eine Delikt nicht das andere “konsumiert” bzw. “einschließt”. Die Variante der Konkurrenz, wo Straftatbestände einander ausschließen, ist heute nicht Thema.
Beispiel:
Der Mörder erschießt sein Opfer. Das ist Mord (§ 75 StGB). Aber meistens auch Sachbeschädigung am Pullover des Opfers (§ 125 StGB). Aber das wird nach der Konkurrenzlehre gar nicht mehr extra bestraft. Warum, fragt der Laie, und der Fachmann wundert sich eh über nichts mehr.
Aber wer danach den Leichnam zerstückelt oder in Säure auflöst begeht doch eine gesonderte Störung der Totenruhe (§ 190 StGB)? Ja, aber so etwas wird in der Praxis nicht immer extra angeklagt.
Beispiel:
Wer stiehlt, sitzt bei Kleinbeträgen maximal 6 Monate (§ 127 StGB). Wer den Kleinbetrag mit Einbruch erlangt, sitzt aber plötzlich bis zu 3 Jahre (§ 129 StGB). Dafür erspart sich der Einbrecher eine Verurteilung für die eingebrochene und beschädigte Tür (§ 125 StGB). Rechtsgutidentität. Ein geringer Trost.
Beispiel:
Ein Dieb bricht ständig ein (§ 129 StGB). Außerdem vergisst er im Stress, sein Einkommen aus den Diebstählen in seine Steuererklärung aufzunehmen, ein Finanzstrafdelikt. Al Capone kam nur wegen Steuerhinterziehung dran, ob das Einkommen aus Straftaten oder aus legaler Tätigkeit stammte, war ja egal. Also ganz so unterschiedlich sind das amerikanische und das europäische Rechtssystem dann doch nicht, zumindest nicht, wenn es um die Steuern des Staates geht.
Der aktuelle Fall
Der Grund dieses Beitrages: “ORF.at: Einbrecher auch nach Covid-Gesetz angezeigt“. Ganz richtig berichtet der ORF, dass Einbrechen kein Ausnahmetatbestand bei den Ausgangsbeschränkungen ist. Also Konkurrenz von § 129 StGB und irgendeinem § der so-und-so-vielten-vermurksten COVID-Verordnung. Die Diebe werden für beides bestraft. Ach ja, die hatten einen Schlagring mit. Das ist nach der Legaldefinition in § 17 Abs 1 Z 6 WaffG eine (verbotene) Waffe. Wer beim Einbruch eine Waffe mitführt, kassiert nach § 129 Abs 2 Z 2 StGB aber sogar bis zu 5 Jahre. Auch wenn er nur 1 Packerl Zigaretten stehlen wollte. Ob er sich die Verurteilung wegen verbotenen Waffenbesitzes (§ 50 WaffG) erspart, wird vom einzelnen Richter abhängen, das kann man so oder so sehen. Den Schlagring hatte er ja vermutlich nicht erst kurz vor dem Einbruch auf der Straße gefunden. Das heißt: Keine Konkurrenz. Keine Rechtsgutidentität. Keine Doppelverfolgung.
Dr. Lorenz Kirschner, Rechtsanwalt für Strafrecht
